Prof. Dr. Horst Heinemann i.R.

Veröffentlichungen 2011

 

Wenn Dich Dein Kind fragt..., in: Horst F. Rupp (Hg.): Lebensweg, religiöse
Erziehung und Bildung - Religionspädagogikmals Autobiographie, Band 4,
 Seite 125 - 142 Königshausen & Neumann, Würzburg 2011

 

 

Horst Heinemann

Wenn Dich Dein Kind fragt…“

 

Kurzbiographie:

1941   in Marburg/Lahn geboren,
1961   Abitur in Kassel
1961-1968 Studium der Ev. Theologie in Marburg und Göttingen,
1968-1970 Vikariat und Ordination zum Pfarrer
1970 Studienleiter am Pädagogisch Theologischen Institut Kassel,
1971 Leiter der ReligionsPädagogische  Arbeitsstelle Bremen,
1972-1974 Studienleiter am PTI Kassel,
1973-1981 Leiter des Religionspädagogischen-Zentrums an der Gesamthochschule Kassel,
1981-1991 Privatdozent für Ev. Theologie/Religionspädagogik und Altes Testament  Universität Oldenburg,
1991-2006 Professor für Ev. Theologie und Religionspädagogik an der Universität Kassel.

Der Anfang

An meinen Vater, der im Krieg gefallen ist, habe ich kaum Erinnerungen. „Allein unter Frauen“ aufgewachsen, umsorgt und behütet von Mutter, Großmutter und Tante, war ich ein typischer Vertreter der sogenannten ‚vaterlosen Generation‘, die immer nach einem Vater suchte und zu finden hoffte. Onkel Willi baute mir den ersten Drachen, Lehrer Simon organisierte die erste Radtour, Bruder Fischer sang in der Jungschar wilde Piratenlieder zur Gitarre und erzählte vom Vater im Himmel, der die Kinder liebt. Ich hatte Glück mit meinen „Vätern“. Sie waren Vorbilder und boten doch immer wieder Gelegenheit, sich an ihnen zu reiben und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, sich abzulösen und neue Väter zu finden.

Dann kam ein junger Pfarrer in unsere Gemeinde, Siegfried Vierzig, und begeisterte mich für seinen Jugendkreis, nahm sich Zeit für die vielen Fragen, die einen 16jährigen beschäftigen, wagte es, mit uns Pfadfindern im Zelt zu übernachten, stellte neue Fragen und diskutierte stundenlang mit mir über Gott und die Welt, war die Bezugsperson, wurde zum Übervater. Die Schule und ihre Inhalte nahmen zwar einen großen Teil meiner Zeit in Anspruch, spielte aber eher eine nebensächliche Rolle. Es gelang, sie ohne Ehrenrunde zu durchlaufen. Das Fragen und Denken wurde in evangelischen Jugendgruppen und von Siegried Vierzig geprägt. Dass ich Theologie studieren würde, stand seit der Begegnung mit ihm fest.

Studium, Vikariat und Promotion

Doch das erhoffte freie Studentenleben fand in Marburg seine Grenzen im täglichen Hebräischunterricht und ab zweitem Semester in der Paukerei für die Griechischkurse. Nach dem Wechsel nach Göttingen versprach eine Studentenverbindung, Farbe in den grauen Alltag der Sprachsemester zu bringen. Füchse und Burschen spielten nächtelang Skat und zogen am Himmelfahrtstag mit einem Bierfass auf einem Handwagen durch den „wunderschönen Mai“. Dass Siegfried Vierzig diesem Tun nichts abgewinnen konnte, hielt ich für spießig und nahm in Kauf, dass sich unsere Beziehung stark abkühlte.

Aber zwei Semester „lustigen Verbindungslebens“ waren dann doch mehr als genug und ich verstand Siegfrieds Vorbehalte. Zurück in Marburg motivierte das Angebot der Theologischen Fakultät kaum. Ernst Fuchs strotzte vor überheblicher Selbstgefälligkeit, Kümmel war zum Einschlafen, Ratschow konnte sich nicht verständlich machen. Nur Otto Kaiser zog in seinen Bann. Schließlich landete ich bei Dietrich von Oppen und versuchte mich als Sozialethiker. Mehr und mehr begann ich zu ahnen, dass die Marburger Theologie kaum auf den Beruf eines Pfarrers vorbereitete. Am ehesten schien die praktische Theologie Friedrich Hahns in die richtige Richtung zu führen. Mein Wunsch war, das Studium so schnell wie möglich abzuschließen. Zugang zur Theologie fand ich in Büchern Martin Noths „Geschichte Israels“, Albrecht Alts „Der Gott der Väter“, Hans Conzelmanns „Geschichte des Urchristentums“ und seinem Lukasbuch „Die Mitte der Zeit“ und Willi Marxsens „Einleitung in das Neue Testament“ und „Die Auferstehung Jesu als historisches und als theologisches Problem“. Sie waren meine Favoriten.

Neue Impulse kamen von außen. Eine Einladung von Johannes Beisheim zu einem Vortrag bei einer Schülertagung öffnete neue Perspektiven. Wenig später reiste ich mit ihm und einer Schülergruppe das erste Mal nach Israel und lernte dabei ein Land kennen, das mich bis heute fasziniert. Aber zunächst ging es ins Vikariat. In Gerhard Schmerbach fand ich einen Vikarsvater, der mich geduldig und kompetent in die vielen Aufgaben eines Gemeindepfarramte einzuführen suchte. Krankenhausbesuche, Konfirmandenstunde, Religionsunterricht, Gebetskreis: alles Aufgaben, für die ich im Studium kaum etwas gelernt hatte.

Siegfried Vierzig, inzwischen Studienleiter in der Lehrerfortbildung, schlug vor, den Akzent auf den Religionsunterricht zu setzen, der Ende der 70er Jahre in eine Dauerkrise geraten war und nach neuen Möglichkeiten suchte. In dieser Zeit lernte ich viel über Schule und Religionsunterricht von meiner Frau, die als engagierte Lehrerin Kinder vom 1. bis 8. Schuljahr in einer einklassigen Dorfschule unterrichtete.

Neben dem Vikariat begann ich ein Zweitstudium bei Friedrich Hahn (Religionspädagogik) und Werner Corell (Lernpsychologie) in Gießen. „Programmiertes Lernen“ und „Curriculum-Diskussion“ waren die neuen Herausforderungen und wurden bald Aufgaben, die mich begeisterten. Als Werner Corell vorschlug, ein Lernprogramm für den Religionsunterricht zu entwickeln, machte ich mich an die Arbeit und fand dabei das Thema, das meinen Weg als Religionspädagoge bestimmt hat. Was antworten wir, wenn unsere Kinder uns nach Gott und der Welt fragen? Wie gehen wir damit um, dass sie vielleicht gar nicht fragen, weil in ihrer Umgebung niemand nach Gott und der Welt fragt? Wie ermutigen wir sie, diese Fragen zu stellen, aber was antworten wir ihnen dann?

Eine Leitidee dazu kam von Klaus Wegenast, der eine „empirische Wendung“ in der Religionspädagogik forderte: „Das erste, was zu tun wäre“, schrieb Wegenast, „ist etwas durchaus Negatives. Wir müssen unsere bereits ideologischen Vorurteile gegen eine empirische Forschung im Bereich des Religionsunterrichts aufgeben. Wir helfen niemandem, wenn wir dauernd versichern, daß der Erfolg des Religionsunterrichts empirisch nicht meßbar sei, daß Glaube nicht erziehbar sei, daß Gott auch den schlechtesten Unterricht segnen könne, und daß die Lage aufs Ganze gesehen doch viel besser sei, als man gewöhnlich höre.“ (Wegenast, Klaus: Die empirische Wendung in der Religionspädagogik, 1968. In: „Glaube, Schule, Wirklichkeit“, S.41ff)

Martin Stallman klagte: „Die Erfolglosigkeit des Religionsunterrichts besteht nicht nur darin, daß im praktischen Verhalten zu Kirche und Christentum bei den Schülern nach der Schulentlassung keine Wirkungen zu erkennen sind, sondern daß auch keine Kenntnisse haften bleiben.“ (Stallmann, Martin: „Evangelischer Religionsunterricht“. Düsseldorf 1968)

Hier wollte ich ansetzen und ein Lernprogramm entwickeln, das Schüler motivieren sollte, sich mit dem Neuen Testament zu beschäftigen und Antwort auf ihre Frage: „Wie lesen wir das Neue Testament?“ geben sollte. Die Entwicklung und Validierung dieses Lernprogramms habe ich in meiner Dissertationsschrift: „Programmiertes Lernen im Religionsunterricht? – Entstehung, Erprobung und Einsatz eines Lernprogramms“. Hannover 1973) ausführlich dokumentiert.

Im zweiten Vikariatsjahr konnte ich bei der Schülerarbeit von Johannes Beisheim mitarbeiten. In der Gestaltung seiner Seminare verwirklichte er schon damals Vieles, das später unter den Schlagworten „offener Unterricht“ oder „Schüler- und Problemorientierung“ die religionspädagogische Diskussion bestimmen sollte.

Das Pädagogisch-Theologische Institut in Kassel

In der Kurhessischen Kirche hatten sich katechetische Studienleiter und Religionspädagogen um Siegfried Vierzig zu einem Arbeitskreis zusammengeschlossen, dem es gelang, die Landeskirche zur Gründung des ersten Pädagogisch-Theologischen-Instituts in der Bundesrepublik zu motivieren. Nach bestandenem 2.Theologischen Examen hatte ich das Glück, von Anfang an dabei zu sein. Gemeinsam entwickelte das Kollegium des PTI Siegfried Vierzigs lernzielorientierten Ansatz für den Religionsunterricht zu einem Projektideenplan (Horst Heinemann: „Projektideenplan zum Religions-Unterricht“. In: „Informationen - Zeitschrift für den Religions-Unterricht“ Heft 3+4/1970, S. 21 ff, Hrsg.: Siegfried Vierzig /Horst Heinemann, Schroedel Verlag, Hannover), der in Aufnahme der aktuellen Curriculumdiskussion das Lernziel: „Fähigkeit, die religiöse Frage in den jeweiligen Entscheidungs- und Konfliktsituationen zu stellen und in Auseinandersetzung mit vorgegebenen Antworten religiöser Tradition zu einer eigenen Antwort zu kommen“ in ausgearbeiteten Unterrichtsprojekten konkretisierte.

Der Neuansatz stand bald im Mittelpunkt der religionspädagogischen Diskussion und die „informationen zum religions-unterricht“ – gegründet als Hauszeitschrift des PTI Kassel – hatten nach kurzer Zeit mehr als 30.000 Abonnenten und Leser. Der ökumenischen Ausrichtung entsprach es, dass die katholischen Religionspädagogen Hubertus Halbfas und Peter-Michael Pflüger ab 1972 in das Herausgeberteam berufen wurden. Meine Aufgabe war, die vielen Unterrichtsprojekte, die religionspädagogische Praktiker deutschlandweit entwickelten, redaktionell zu betreuen und die zugehörigen Schülermaterialien in der Reihe „Religion heute“ herauszugeben. Besonders mit Peter-Michael Pflüger entstand in den folgenden Jahren aus vielen Gesprächen und gemeinsamen Seminaren und Unternehmungen eine intensive Freundschaft.

Das Theologische Zentrum an der Gesamthochschule Kassel

Pädagogisch wie religionspädagogisch war der Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts von einer euphorischen Aufbruchsstimmung erfüllt. In Kassel wurde eine neue Universität als „Gesamthochschule“ mit Schwerpunkt auf einer reformierten Lehrerbildung gegründet.

Allerdings stand die Ausbildung von Religionslehrern nicht auf der Agenda der „fortschrittlichen“ Reformer. Doch der katholische Studentenpfarrer Heinz Fischer gründete in einem Wohnblock neben den neu erbauten Universitätsanlagen ein katholisches Theologisches Zentrum und es gelang ihm, Bernhard Jendorff aus Gießen zu gewinnen und so ein Lehrangebot für katholische Religionspädagogen zu initiieren, das zunächst jedoch keine Anerkennung durch die universitären Gremien fand.

Im Staatskirchenvertrag für Hessen war jedoch festgeschrieben, dass wo immer im Lande Lehrer ausgebildet werden, ein Angebot für Religionslehrer angeboten werden sollte. So war es nur folgerichtig, dass die Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck dem katholischen Beispiel folgte und ein evangelisches Theologisches Zentrum gründete, zu dessen Leiter ich berufen wurde.

Wir begannen im Wintersemester 1972/73 mit 6 Studierenden und wuchsen schnell von Semester zu Semester, nachdem es gelungen war, in Jürgen Redhardt und Friedel Kriechbaum „richtige“ Professoren aus Gießen zur Mitarbeit in Kassel zu gewinnen. Besonders Jürgen Redhardt gelang es, die Anerkennung des Studiengangs in den universitären Gremien Schritt für Schritt voranzutreiben. Für mich war er ein väterlicher Freund, der mir mit seiner unkonventionellen Art half, einen eigenen unabhängigen Weg in der von Eitelkeiten und Selbstgefälligkeiten bestimmten universitären Community zu finden.

Unter der Federführung von Siegfried Vierzig bildete sich ein „vorläufiger Curriculum-Arbeitskreis“, der einen Neuansatz der Religionslehrerausbildung wagen wollte und „Religionswissenschaften“ als Fachwissenschaft für die Lehrbefähigung in „Religionslehre“ bestimmte. (Flyer: „Religionswissenschaften“, hrsg. von Fischer, Jendorff, Kriechbaum, Redhardt, Vierzig, Gesamthochschule Kassel 1972)

Die gewählte neue Bezeichnung: „Religionswissenschaften“ für den Studiengang sollte zum Ausdruck bringen:

      „daß es sich um einen Komplex von Wissenschaften handelt, die zur Erhebung theol. relevanter Situationen von Bedeutung sind,

      daß Theologie dabei in einer interdisziplinären Auseinandersetzung steht und nicht mehr alleinige Fachwissenschaft ist,

      daß die ausschließliche konfessionelle Aufgliederung in einen evangelischen und katholischen Fachbereich durch einen kooperierenden Gesamtfachbereich ersetzt werden soll. Katholische Theologie und evangelische Theologie bilden eigene Sektionen mit verschiedenen Schwerpunkten mit größtmöglicher Kooperation.“ (Flyer:“Religionswissenschaften“, S. 4)

Damit waren die Eckpunkte für einen religionspädagogischen Neuanfang gesetzt und die Frage, was Schüler im Religionsunterricht lernen sollten, neu gestellt. Angestrebt wurde eine Emanzipation der Religionspädagogik von der universitären Theologie, die die Religionspädagogik als Teil der „Praktischen Theologie“ verstand und weithin auf die Frage reduziert: „Theologie, wie macht man das mit Schülerinnen und Schülern?“.

Doch die Akzeptanz des „religiösen“ Studiengangs innerhalb der „fortschrittlich“ orientierten Gremien der „Gesamthochschule Kassel“ – so der damals „fortschrittliche“ Name der Uni Kassel – kam nur schrittweise voran und fand erst in der Berufung erster Professoren Anfang der 80er Jahre ihren Abschluss.

Bei meiner Arbeit im Rahmen des Theologischen Zentrums wurde mir immer deutlicher, dass die themen-, problem- und schülerorientierten Ansätze des Religionsunterrichts zwar die Diskussionsbereitschaft und das Problembewusstsein der Schülerinnen und Schüler erweitert hatte, aber dass selbst bei den angehenden Lehrerinnen und Lehrern, die „Religion“ als eins ihrer zukünftigen Unterrichtsfächer gewählt hatten, kaum noch Kenntnisse, Informationen oder Verstehensansätze zur biblischen Überlieferung anzutreffen waren.

Bei der Frage nach den Ursachen dieses Traditionsabbruchs wird rückblickend deutlich, dass diese weniger in der fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft zu suchen sind, sondern von der Religionspädagogik planmäßig – mit welchen Begründungen auch immer – herbeigeführt wurden. Hatte Hans Bernhard Kaufmann noch vorsichtig gefragt, ob die Bibel im Mittelpunkt des Religionsunterrichts stehen müsse (Hans Bernhard Kaufmann: Muß die Bibel im Mittelpunkt des Religionsunterrichts stehen? In: Schule und Kirche vor der Aufgabe der Erziehung, hrsg. v. Gert Otto und Hans Stock, Hamburg 1968, S.79 ff) war sich Gert Otto seiner Sache sehr sicher und versuchte, zu einer finalen Lösung zu kommen. Seiner Meinung nach kann die Religionspädagogik „nicht ausgehen von einem, in welcher Form auch immer, feststehenden Eigenwert biblischer Texte“. Otto wollte nur „von Fall zu Fall auch die Möglichkeit der Einbeziehung historischer Texte in den Unterricht erwägen“, denn „Als Korrektiv ist stets die Frage wachzuhalten, ob denn der Umweg über den fernen historischen Text zur Erhellung der Situation überhaupt nötig ist. Nur wenn diese Frage positiv beantwortet werden kann, ist die Einbeziehung des biblischen Textes vertretbar.“. (Gert Otto, Hans Joachim Dörger, Jürgen Lott: Neues Handbuch des Religionsunterrichts, Hamburg 1972, S.332f)

Als Privatdozent an der Uni Oldenburg

Als Gert Otto mit Hilfe von Hans Rauschenberger ihre Konzeption bei der Besetzung der neugeschaffenen Professuren in Kassel auch personell durchsetzte, versuchte ich nach meiner Habilitation in Oldenburg einen Neuanfang als Privatdozent. Die weitgehende Ahnungslosigkeit der Studierenden dort machte deutlich, dass Zugänge zur biblischen Überlieferung nicht erst im Studium angebahnt werden konnten, sondern sie sollten Schülerinnen und Schülern schon im Religionsunterricht der Grundschule eröffnet werden. Hier mussten neue Wege gefunden und erprobt werden. Mit dieser Zielsetzung wurde das Lernprogramm: „Wie lesen wir das Alte Testament“ (1977) entwickelt und später der Modellbausatz „Komm, wir bauen eine Stadt“ sowie das Arbeitsbuch „Zeit und Umwelt Jesu“ (1984), ergänzt von „David, König von Gottes Gnaden“ und „Jesus“ (1986).

Um die Studierenden zur Auseinandersetzung mit den historisch kritischen Hintergründen der biblischen Überlieferung zu motivieren, organisierte ich Exkursionen nach Israel, Ägypten, Jordanien, Griechenland und in die Türkei.

Dabei stellte sich heraus, dass auch meine Kollegen, ob Alt- oder Neutestamentler, bis dahin kaum die Möglichkeit gefunden hatten, die Schauplätze der biblischen Überlieferung persönlich kennenzulernen und begeistert an den angebotenen Entdeckungsfahrten teilnahmen. Doch nicht nur dem historischen Aspekt galt unser Interesse, sondern wir lernten viele Menschen und ihre Probleme im sogenannten Nahen Osten kennen und es entwickelten sich vielfältige Beziehungen und Freundschaften – besonders nach Israel.

Hochschullehrer an der Uni Kassel

1991 kehrte ich als Hochschullehrer an die Universität Kassel zurück. Mit zwei Kollegen sollten mehr als 300 Studierende zu Religionslehrerinnen und Religionslehrern für die Grund-, Mittel- und Oberstufe und Berufsschule ausgebildet werden. Hinzu kam, dass bei der Besetzung der in den 80er Jahren geschaffenen Professorenstellen die Theologischen Fakultäten dafür gesorgt hatten, dass der Reformansatz einer religionspädagogischen Akzentuierung des Studiengangs zu Gunsten der traditionellen Vorrangstellung der Theologie auch bei der Ausbildung von Religionspädagogen verändert wurde. Die biblische Überlieferung konnten die Studierenden zudem nur noch aus feministischer Perspektive kennen lernen.

Durch die Berufung von Fachleuten aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsbereichen suchten Christian Gremmels – mit dem mich eine langjährige Freundschaft verband – und ich, das Lehrangebot des Studiengangs „Religionswissenschaften“ – der Name der Anfangszeit hatte sich erhalten – auf eine breitere Basis zu stellen. Mit Doris Immich lud Christian Gremmels die Studierenden zu bibliodramatischen Kompaktseminaren ein und bot ihnen so Gelegenheit, das eigene Verständnis von Religion und Glauben aufzuarbeiten und zu reflektieren.

Es gelang uns, die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Esther Hass ebenso zur Mitarbeit im Studiengang zu motivieren wie den Islamwissenschaftler Wolf-Dieter Aries. Eine Partnerschaft mit der Bar Ilan Universität, Ramat Gan, bot mir die Möglichkeit, ein Forschungssemester in Israel zu verbringen und Ephraim Meir für mehrere Semester als Dozent für Kassel zu gewinnen.

Exkursionen nach Israel, Ägypten, Jordanien, in die Türkei, nach Syrien, Bali und in den Jemen boten Studierenden, Lehrern und Lehrenden die Möglichkeit, „Religion“ in den unterschiedlichsten Ausformungen kennenzulernen und im Rahmen von Sommeruniversitäten in Rom, Jerusalem und Kassel mit Vertretern anderer Glaubensrichtungen ins Gespräch zu kommen.

Das Konzept zeigte vielfältige Erfolge. Die Zahl der Studierenden, die „Religion“ als eins ihrer zukünftigen Unterrichtsfächer wählten, stieg auf über 400. Unterstützung erhielt der Studiengang durch Jürgen Frank, der als Leiter des PTI Kassel freundschaftlich mit uns zusammenarbeitete.

Konzeptionell wurde die Religionspädagogik in Hessen in dieser Zeit von einem problemorientierten Ansatz bestimmt, der die biblische Überlieferung nur dann in den Unterricht einbezog, wenn sie „irgendwie“ zu den erfahrungsbezogenen Lernfeldern „passte“.

Ausgehend von einem Ansatz, der „Erfahrung“ als verarbeitete „Erlebnisse“ verstand und für den Religionsunterricht eine Möglichkeit sah, die zufälligen Erfahrungen der Schüler in der Begegnung mit Erfahrungen, die in der biblischen Tradition überliefert sind, zu erweitern und zu vertiefen, versuchten wir dieser Überlieferung in den neuen „Rahmenplan Grundschule 1995“ des hessischen Kultusministeriums in der Form biblischer Erzählzyklen einen angemessenen Platz einzuräumen.

Dies war jedoch gegen die „problemorientierte“ Mehrheit in der Rahmenplankommission nur dadurch zu erreichen, dass Jürgen Frank und ich mit dem Austritt aus der Kommission drohten. Grundkenntnisse der biblischen Überlieferung schienen uns auch über die Problemkreise des Religionsunterrichts hinaus notwendig, da das Leben die Schülerinnen und Schüler sicher mit mehr und anderen Fragen und Situationen konfrontieren würde, als sie in den Lernfeldern des Rahmenplans angesprochen werden konnten.

1996 wollte der damalige Präsident Hans Brinckmann die Notwendigkeit einer Strukturreform der Universität dazu nutzen, die Religionslehrerausbildung in Kassel abzuschaffen, weil die vorhandenen Ressourcen eine qualitative Ausbildung nicht gewährleisteten und gesellschaftlich kaum Bedarf an einem religionspädagogischen Studiengang bestände. Erst nach langem Kampf in den universitären Gremien und durch die Einschaltung der beiden Kirchen konnte dieser Versuch nach dem Ausscheiden des auch sonst recht ineffektiv arbeitenden Präsidenten endgültig beigelegt und mit der Besetzung der neutestamentlichen Professur der Bestand der Religionslehrerausbildung in Kassel fürs Erste gesichert werden.

Suche nach einer Kinderbibel

Neue Perspektiven eröffneten sich, als Stefan Alkier für einige Semester das Neue Testament in Kassel vertrat. Gemeinsam begannen wir ein Projekt zur Analyse von Kinderbibeln. Das hatte auch einen persönlichen Grund. Stefans Sohn Max wurde gerade 3 Jahre und er sollte zum Geburtstag von mir seine erste Kinderbibel erhalten, weil ich als Religionspädagoge doch wissen müsste, was eine gute Kinderbibel ist, meinte Stefan. Damit eröffnete sich mir ein völlig neues Forschungsgebiet, das in den folgenden Jahren zum Schwerpunkt meiner religionspädagogischen Arbeit wurde.

In Kassel gibt es eine Buchhandlung, die sich auf Bibeln spezialisiert hat. Dort hoffte ich zu finden, was ich suchte. Und wirklich, schnell lagen fast zwanzig Kinderbibeln vor mir auf dem Tisch und ich begann zu blättern. Die Verkäuferin erklärte mir den Unterschied zwischen Bibeln zum Vorlesen – weil die wenigsten Erwachsenen heute noch selbst biblische Geschichten erzählen können – und Bibeln mit sehr vereinfachten kurzen Texten, die die Kinder ab dem zweiten Schuljahr selbst lesen können.

Ich wandte ein, dass Max erst in ein paar Jahren selbst lesen würde. „Für die ganz Kleinen habe ich etwas, das sie mit in die Badewanne nehmen können.“ Doch ich konnte an dem Plastikschwimmbuch mit seinen sechs Comicbildern keinen Gefallen finden. „Ich hätte gern eine Bibel, in der Jesus nicht wie Obelix aussieht, sondern so, dass sich Max noch gern an ihn erinnert, wenn er älter wird!“

„Das ist nicht so einfach“, antwortete die Buchhändlerin. „Viele Kinderbibeln sind Übersetzungen und Nachdrucke amerikanischer oder skandinavischer Originalausgaben. Dort hält man Comics für kindgemäß. Aber hier habe ich die Kinderbibel eines bekannten holländischen Künstlers. Die verkaufen wir sehr gut.“ Die Art, wie Jesus dargestellt wird, gefiel mir. „Die Bilder erzählen nur wenig, weil sie sich auf das ‚Wesentliche‘ konzentrieren!“, erklärte die Verkäuferin. Ich konnte nicht glauben, dass dies Kindern den Zugang zu den Geschichten erleichtern würde. Dazu gab es einfach zu wenig zu sehen.

Als nächstes reichte sie mir eine Bibel, deren Bilder nach ihrer Meinung von hohem künstlerischem Anspruch waren. Ich blätterte und fand ein Bild, das einen kleinen Jungen einsam und verloren vor einem grünen Hintergrund zeigte. „Hänsel, der sich im Wald verlaufen hat und Gretel sucht?“, vermutete ich. „Nein, das Bild symbolisiert die Gefühle Davids als er vor Goliath steht.“

Dann versuchte ich, mich in die Texte für Erstleser einzulesen. Sie sind wirklich sehr einfach und kurz. Nur wo bleibt dabei der Inhalt der biblischen Überlieferung, wo bleibt die Botschaft oder wie wir heute auf ‚Neudeutsch‘ zu sagen pflegen: die „Message“?

„Wenn es Ihnen darauf ankommt, empfehle ich doch eine Vorlesebibel. Hier habe ich etwas ganz Besonderes. Die Bilder sind künstlerisch anspruchsvoll und die Texte stellen zu Recht das patriarchalische Gottesbild in Frage. In vielen Geschichten erzählen die Autorinnen von Gott als einer Frau.“ Ich verabschiede mich mit der Frage: „Aber Jesus bleibt ein Mann, oder?“.

Keine dieser Kinderbibeln gefiel mir wirklich. Sie sind kaum für Kinder, sondern eher für die kaufenden Erwachsenen gestaltet. Was Oma oder der Patenonkel für gut halten, wird gedruckt. Aus der Sicht der Verlage und Buchhändler ist das verständlich. Schließlich kaufen nicht Kinder, sondern Erwachsene das angebotene Produkt. Wenn ich mir eine Kinderbibel für Max wünschen könnte, wie würde sie aussehen? Max sollte sie selbst in die Hand nehmen können, um in ihr zu blättern, sie zu betrachten und die Bilder sollten ihn neugierig auf die Geschichten machen, von denen sie erzählen.

 

Irgendwo in Afrika

Nach Stefan Alkier konnten wir Werner Kahl für die Vertretung der unbesetzten Neutestamentlerstelle in Kassel gewinnen. Er kam direkt aus Afrika und berichtete von den dort rasant wachsenden christlichen Gemeinden, in denen Männer, Frauen und Kinder zu hunderten die Kirchen füllten, um miteinander Gottesdienst zu feiern. Ich selbst hatte dies bei Besuchen in Indien und China erlebt und erlebte es aufs Neue, als ich Gelegenheit hatte mit Bischof Christian Zippert unsere Schwesterkirche in Namibia zu besuchen.   

Fast 200 Kinder hatten sich zum Kindergottesdienst versammelt, sangen und beteten gemeinsam und lauschten atemlos der Erzählung einer jungen Frau. Während sie erzählte, zeichnete sie in wenigen Strichen ein Bild auf die Folie ihres Overheadprojektors. Bald standen vier, fünf Strichmännchen nebeneinander. Hinter ihnen stand eine viel kleinere Figur. Doch obwohl sie den Hals reckte, konnte sie doch nicht über die vor ihr Stehenden, die ihr die Sicht versperrten, hinweg schauen. Da wuchs im Hintergrund des Bildes mit wenigen Strichen ein Baum und das kleine Strichmännchen wurde in seine Zweige gesetzt. Dann kam ein weiteres Strichmännchen hinzu, stellte sich unter den Baum und streckte seine Arme aus zu dem, das oben im Baum saß.

Obwohl wir kein Afrikaans sprechen konnten, verstanden wir die Geschichte. Weil keiner Zachäus leiden kann, lässt ihn keiner nach vorn, wo auch er sehen könnte, was geschieht. Doch Zachäus will Jesus sehen. Deshalb steigt er auf einen Baum. Als Jesus ihn entdeckt, holt er Zachäus vom Baum und nimmt ihn in die Gemeinschaft seiner Jünger auf. Was wir in Worten nicht verstehen konnten, hatten wir durch die einfachen Bilder sogleich verstanden. Bilder – und mögen sie noch so einfach und schlicht sein – erzählen Geschichten über jede Sprachgrenze hinweg.

Nach dem Gottesdienst umringte uns eine fröhliche Schar mit erwartungsvollen Augen. Ob wir ihnen wohl etwas mitgebracht hätten? Hatten wir! Beim Weltspartag waren Kugelschreiber, Buntstifte, Malhefte und Radiergummis übrig geblieben. Die hatte uns eine Bank überlassen. Die Kinder waren begeistert und freuten sich riesig. Uns beschlich jedoch das Gefühl, der Situation nicht gerecht geworden zu sein. „Haben wir denn keine Bildchen mitgenommen, wie sie bei uns im Kindergottesdienst verteilt werden?“ wollte unser Bischof wissen. „Nein, haben wir nicht!“, war meine Antwort. „Unsere Bildchen taugen nicht für diese Kinder.“ „Wieso nicht?“, fragte der Bischof irritiert.

„Diese Kinder haben zu Hause kein Bücherregal, keine Schublade oder irgendeinen Platz, der ihnen allein gehört. Alles, was sie besitzen, steckt in ihrer Hosentasche. Darin sieht es aus wie in der sagenhaften Hosentasche von Huckleberry Finn. War da nicht schon eine Maus drin, ein paar rostige Nägel, ein Kaugummi, ein Stück Apfel und vieles andere mehr, was zu den unverzichtbaren Schätzen eines Kindes gehört? Ein traditionelles ‚Kindergottesdienstbildchen‘ hat in dieser Umgebung keine Überlebenschance. Wenn wir ihnen so etwas schenken wollen, müsste es in so einer Hosentasche eine Überlebenschance haben. Gebraucht wird eine HOSENTASCHENBIBEL.“

Die Hosentaschenbibel

Zurück in Deutschland war die Aufgabe klar gestellt. Gemeinsam gründeten Bibelwissenschaftler, Systematiker, Missionswissenschaftler, Pfarrer, Lehrerinnen, Erzieherinnen und Studierende einen Arbeitskreis, um eine HOSENTASCHENBIBEL zu entwickeln. Diese sollte eine reine Bilderbibel werden, deren „Erzählbilder“ die Kinder motivieren, Erwachsene zu bitten: „Erzähl mir doch die Geschichte zu diesem Bild!“.

Für die vom Erzählen biblischer Geschichten weithin überforderten potentiellen „Erzähler“ sollten Materialien und Hilfen gestaltet werden, die es Eltern, Geschwistern, Omas und Opas, Tanten und Paten, Erzieherinnen und nicht zuletzt Lehrerinnen und Lehrern ermöglichen würden, Kindern die biblischen Geschichten zu den Bildern der HOSENTASCHENBIBEL zu erzählen. Um die „richtigen“ Geschichten für die HOSENTASCHENBIBEL zu finden, führte der Arbeitskreis eine Internetbefragung durch, mit deren Hilfe zwanzig biblische Geschichten ausgewählt wurden, mit denen das Projekt gestartet werden sollte.

Jedes Mitglied des Arbeitskreises übernahm die Bearbeitung einer oder mehrerer Geschichten, um sie für die zukünftigen Erzähler zu erschließen. Im Hintergrund stand die Überzeugung, dass Erwachsene das, was sie selbst für interessant, wissenswert und wichtig halten, Kindern, mit denen sie zusammen leben und deren Fragen, Probleme und Entwicklungsstand sie kennen, ohne größere Schwierigkeiten weitersagen können. So individuell und hörer- bzw. leserorientiert lässt sich kein Text in einer Kinderbibel erzählen.

Wie aber sollten die Bilder der HOSENTASCHENBIBEL gestaltet werden? Als Comics, weil das „in“ ist? Als symbolhaltige Collagen, weil Symbole die Sprache der Religion sind? Flächig mit wenigen Details, weil das viele für „kindgemäß“ halten? „Künstlerisch wertvoll“, weil das die Bildungsbürger anspricht? Nein, das alles nicht. Es sollte eine Bilderbibel werden, die Kinder in die Hand nehmen und in ihr Aspekte der biblische Überlieferung entdecken können, die sie motivieren und neugierig machen auf das, was da erzählt wird. Wie in der biblia pauperum des Mittelalters sollte auch die HOSENTASCHENBIBEL biblische Geschichten für Menschen erzählen, die noch nicht lesen können. Auf ihren Erzählbildern sollte viel zu sehen und zu entdecken sein und zugleich wesentliche Aspekte der jeweiligen Geschichte bildlich dargestellt werden.

Doch wo konnten wir Künstlerinnen oder Künstler finden, die sich für Kinderbibeln interessierten und bereit waren, weitgehend auf unsere Vorgaben einzugehen? Als diese Frage im Arbeitskreis diskutiert wurde, meinte ein Lehrer: „Im Kirchenchor meiner Frau singt eine Künstlerin mit, die sehr schöne Kinderbücher illustriert hat.“. Am nächsten Tag war ein Termin vereinbart und wenig später saß ich im Atelier von Gabriele Hafermaas und bewunderte ihre Kinderbücher. Das war genau das, was wir uns vorstellten.

Als ich ihr von unserem Projekt erzählte, wurde sie sehr skeptisch. Noch nie hatte sie religiöse Themen bearbeitet und die biblische Überlieferung war ihr eher fremd als vertraut. Doch sie wollte einen Versuch wagen, wenn zu den geplanten Illustrationen jeweils Ideenskizzen vorbereitet und die Ausführungen kritisch begleitet würden.

Inzwischen wurde die Frage der Finanzierung immer drängender. Unsere Künstlerin arbeitete intensiv an ihren Bildern und erwartete, dass früher oder später die vereinbarten Honorare gezahlt würden. Es wurde Zeit, freizügige Sponsoren zu finden. Wochenlang stellten wir zu zweit oder zu dritt hoffnungsvoll unser Konzept und die ersten fertigen Bilder bei Banken, Industrieunternehmen, Versicherungen, Finanzberatern und kirchlichen Gremien vor. Dann hatten wir endlich die ersten Zusagen. Wesentlich geholfen hat die allgemeine Vorbereitung auf ein Jahr der Bibel, das die beiden großen Kirchen für 2003 planten. Zu diesem Großereignis sollte auch die HOSENTASCHENBIBEL zur Verfügung stehen. Noch aber war es nicht soweit. Noch hatten wir kein Material gefunden, das unseren Ansprüchen entsprach und es fehlte ein Verlag, der bereit war, das Projekt nach unseren Vorstellungen zu entwickeln.

Die HOSENTASCHENBIBEL sollte eine Bilderbibel werden, die in der Hosentasche eines Kindes mindestens 1 Jahr „überleben“ kann, gleichgültig, was sonst in dieser Hosentasche aufbewahrt wird. Papier schied daher als Material aus. Doch welcher Kunststoff würde unsere Erwartungen erfüllen können? Verschiedene Druckereien wurden um ein Angebot gebeten, doch die Kanten der Kunststoffseiten waren oft so scharf, dass sie schon bei einfacher Berührung in die Haut schnitten. Der entscheidende Hinweis kam von einem Designer, der riesige Werbeplakate gestaltete, die bei den großen Automobilsalons von den Decken der Messehallen herunterhängen. Zu diesem Zweck bedruckte er ein Kohlefaserflies, das in den Staaten hergestellt und zur Isolation von Holzhäusern benutzt wird. Bücher allerdings wurden bis dahin aus Tyvek nicht hergestellt.

Nach wenigen Wochen hatten wir das Material in den Händen. Es war glatt und weich und hatte eine leicht strukturierte Oberfläche. Wir fragten bei mehreren Druckereien an und baten, das Material versuchsweise zu bedrucken. Doch alle Versuche mit herkömmlichen Druckverfahren scheiterten, weil das Kohlefaserflies kein Wasser aufnahm. Doch schließlich gelangen einer Druckerei mit einem neuen Verfahren die ersten Probedrucke der HOSENTASCHENBIBEL. Die Testserie begeisterte. Die  kleine Bibel war nicht nur reiß- und beißfest, sondern Kinder konnten sie auch getrost mit in die Badewanne nehmen, ohne dass sie Schaden nahm.

Inzwischen hatte Gabriele Hafermaas die Arbeit an 20 Bildern zum Alten und Neuen Testament abgeschlossen und mit Unterstützung unserer Sponsoren konnten wir eine 1. Auflage der HOSENTASCHENBIBEL in Höhe von 10.000 Exemplaren im Format 7,5 x 7,5 cm herausbringen. Die Bemühungen des Arbeitskreises beschränkten sich jedoch nicht nur auf die Entwicklung der HOSENTASCHENBIBEL für Kinder, sondern zeitgleich wurden erste Materialien fertiggestellt, die Erwachsene motivieren sollten, Kindern biblische Geschichten zu erzählen. Unsere Idee: ein Erzählkalender, der auch als Kniebuch genutzt werden kann. Was ist ein Kniebuch? Die Bilder zu zwölf biblischen Geschichten der HOSENTASCHENBIBEL sind über das Jahr verteilt auf der Vorderseite des Kalenders im Format 70x55 cm zu sehen. Wird der Kalender zum Erzählen auf die Knie des sitzenden Erzählers gestellt (Kniebuch) sehen die kleinen Zuhörer das Bild, während der Erzähler auf der ihm zugewandten Rückseite den für ihn geschriebenen Text als Erzählvorlage vor Augen hat.

Die HOSENTASCHENBIBEL und der ERZÄHLKALENDER „Wir haben seinen Stern gesehen…“ wurden ein großer Erfolg – zumal mit Unterstützung der BRUDERHILFE, unseres Hauptsponsors, beim Kinderkirchentag 2003 in Berlin in einem Erzählzelt Kindern die Hosentaschenbibel vorgestellt und ihnen von Studentinnen und Studenten der Religionspädagogik in Kassel biblische Geschichten erzählt wurden. Doch die logistischen Aufgaben, die der Vertrieb der Kinderbibel und des Erzählkalenders mit sich brachte, überforderten die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Deshalb sollte der Vertrieb und die weitere Produktion möglichst bald einer Bibelgesellschaft oder einem Verlag übertragen werden. Das ist leichter gesagt als getan. Entweder passte die neue Idee nicht ins Verlagsprogramm oder man wollte zwar die Kinderbibel, sah aber keine Absatzchancen für die vorhandenen und geplanten Begleitmaterialien. Mal war der Lektor angetan, dann aber hatte der Produktionschef Bedenken wegen des Materials, aus dem er die Bibel herstellen sollte. Ein Lektor schrieb einen langen Brief, in dem er das künstlerische Niveau der Abbildungen in Frage stellte und den Arbeitskreis auf seine oberlehrerhaften Vorstellungen festzulegen suchte.

Nachträglich begannen wir den Hintergrund vieler Absagen zu begreifen. Fast alle in Frage kommenden Verlage hatten zum Jahr der Bibel 2003 schon ein eigenes Kinderbibelprojekt in Arbeit, dem sie nicht durch ein zweites Objekt Konkurrenz machen wollten. Als wir fast aufgegeben hatten, kam eine Mitarbeiterin durch Zufall während einer Schulbuchmesse mit dem theologischen Lektor von Vandenhoeck&Ruprecht ins Gespräch und erzählte ihm von der HOSENTASCHENBIBEL und unserer Suche nach einem Verlag. Auf dessen Einladung hin stellten wir unser Projekt vor und es gelang uns, die Verantwortlichen zu überzeugen. So konnten eine zweite erweiterte Auflage der HOSENTASCHENBIBEL und die ganze von uns entwickelte Produktpalette noch im Jahr der Bibel erscheinen. 

Besonders Kindertagesstätten interessieren sich für die HOSENTASCHENBIBEL und das Begleitmaterial, weil sie hier eine Möglichkeit sehen, ihre Mitarbeiterinnen und die Kinder durch die Faszination, die von der kleinen Bibel ausgeht, neu für religiöse Erziehung zu motivieren. In Einführungsseminaren gelingt es immer wieder, auch solche Erzieherinnen zu gewinnen, die bis dahin mit der biblischen Überlieferung kaum vertraut waren und die Aufgabe, Kindern eine erste Einführung zu geben, kaum wahrgenommen haben. Hierzu wurden „Sieben Schritte zum Erzählen“ entwickelt, die vielen einen neuen Weg zum Erzählen biblischer Geschichten öffnen. (Horst Heinemann: Kindern biblische Geschichten erzählen, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004)

Inzwischen hat die Hosentaschenbibel „weltweite“ Verbreitung gefunden und ist zu einem beliebten Geschenk beim Besuch von Partnergemeinden in Indien, China, Afrika Amerika und Europa geworden.

Im Ruhestand

Mit 65 ist auch für Hochschullehrer Schluss, jedenfalls für die offizielle Arbeit in der Lehre der Hochschule. Ich hätte gern noch ein paar Jahre meine Aufgaben wahrgenommen, aber da gibt es kaum Ausnahmen. So bleibt es vorläufig bei gelegentlichen Wochenendseminaren und Exkursionen zum Jakobsweg, nach Israel und in die Türkei.

Das Verständnis von Religionspädagogik wird von Generation zu Generation weiterentwickelt. Der Kasseler Versuch, eine eigenständige religionspädagogische Lehrerbildung zu etablieren, wurde 2010 abgeschlossen. Paul-Gerhard Klumbies (Neues Testament), Tom Kleffmann (Systematische Theologie) und Petra Freudenberger-Lötz (Kindertheologie) haben es für richtig gehalten, „Religionspädagogik“ aus dem Namen des Studiengangs zu streichen und die so neu gegründete „Theologie“ aus dem Fachbereich „Erziehungswissenschaften“ zu lösen, um neue Perspektiven für die Ausbildung der Religionslehrerinnen und Religionslehrer im Fachbereich „Geistes- und Kulturwissenschaften“ gemeinsam mit den Instituten für Philosophie, Anglistik, Germanistik und Romanistik zu entwickeln.

Auf meiner Agenda stand und steht die Weiterentwicklung von Kinderbibeln. Die HOSENTASCHENBIBEL wurde für Kinder entwickelt, die noch nicht lesen können. Sie setzt aber voraus, dass die Kinder mit dem kleinen Buch nicht allein gelassen werden, sondern Erwachsene finden, die ihnen die biblischen Geschichten zu den Bildern erzählen. Aber Kinder lernen lesen und an diese kleinen Leser wenden sich Kinderbibeln, die neben den Abbildungen auch „kindgemäße“ Texte anbieten. „Nichttheologen“ fällt die Beurteilung dieser Texte sehr schwer. Warum wird in Kinderbibeln nicht einfach ein gekürzter und vereinfachter Bibeltext übernommen, wird manch einer fragen? Und hier und da versuchen Autoren von Kinderbibeltexten durchaus, biblische Texte möglichst ungekürzt und unverändert zu übernehmen. Aber viele Überlieferungsstücke sind so komplex und vielschichtig, dass sie nur durch Neugestaltung für Kinder verständlich werden. Zunächst sind zwei Gruppen zu unterscheiden: Kinderbibeln, deren Texte zum Vorlesen oder für fortgeschrittene Leser gestaltet wurden, stehen Kinderbibeln gegenüber, die von den Kindern selbst gelesen werden sollen und deren Texte versuchen, Rücksicht auf die sich erst noch entwickelnde Lesefähigkeit zu nehmen.

Die Bearbeitungen reichen vom Austausch weniger Worte in „traditionellen“ (Lutherbibel) oder „modernen“ Übersetzungen (Einheitsbibel) bis hin zu völligen Neuformulierungen, von schlichten Kurzsätzen, die einem vermuteten Verstehens- und Lesevermögen der Zielgruppe gerecht werden wollen, bis zur phantasievollen Erweiterung, völligen Neugestaltung und erklärenden Rahmengeschichten. Die Analyse vieler Kinderbibeln in Seminaren zeigte Probleme und Schwierigkeiten, die bei der Gestaltung von „Erstlesebibeln“ auftreten und kaum gelöst werden. Je „lesbarer“ die Texte sind, umso weniger bleibt vom theologischen Gehalt, von der „message“ der biblischen Überlieferung. Je mehr auf diesen Aspekt Wert gelegt wird, umso „schwieriger“ sind die Texte für die kleinen Leser zu bewältigen. Um hier einen weiterführenden Weg zu finden, scheint es notwendig, nach dem Verständnis der biblischen Überlieferung aus religionspädagogischer Sicht neu zu fragen.

Ein Bild, das in vielen Variationen überliefert ist und das ein frühes Bibelverständnis symbolisiert, zeigt einen Evangelisten beim Schreiben seines Evangeliums. Da sitzt ein würdiger älterer Herr und malt Buchstabe für Buchstabe mit einem Federkiel in einen dicken Folianten. Erst beim näheren Hinsehen entdeckt der Betrachter den kleinen Engel, der dem heiligen Mann im Ohr sitzt und ihm den Text des Evangeliums diktiert. So ist sichergestellt, dass jedes Wort – von Engeln übermittelt unter dem Einfluss des Heiligen Geistes geschrieben – ‚Gottes Wort‘ ist.

Mit der wissenschaftlichen Erforschung der biblischen Überlieferung ist dieses Verständnis verloren gegangen. Wir werden den überlieferten Texten heute am ehesten gerecht, wenn wir sie als ‚Predigten‘ lesen und nicht als historische Tatsachenberichte missverstehen. Die ‚Wahrheit‘ dieser Predigten entscheidet sich nicht an der ‚Historizität‘ des berichteten Geschehens. Es geht allein um die ‚Wahrheit‘ und ‚Gültigkeit‘ der jeweiligen Botschaft, die durch das erzählte Geschehen ausgemalt und konkretisiert wird.

So entscheidet sich die Wahrheit der Jonageschichte nicht an der Frage, ob es einen Fisch gibt, in dessen Bauch ein Mensch drei Tage überleben kann. Die Wahrheit der Jonageschichte entscheidet sich allein daran, ob es stimmt, dass ein Mensch Gottes Auftrag nicht entkommen kann. Die großartige Story von Jonas vergeblichem Fluchtversuch ans Ende der Welt, die im Magen eines Ungeheuers endet, will nur zeigen, dass selbst extremste Versuche – sich ersäufen oder von einem Ungeheuer fressen zu lassen – den Menschen nicht von Gottes trennen.

Doch so, wie das Alte Testament sie überliefert, ist die Geschichte von Jona nicht oder besser: noch nicht ‚Gottes Wort‘, sondern eben nur eine ‚Predigt‘, die Botschaft eines Autors, der lange vor uns eine von ihm erkannte Wahrheit an seine Zuhörer und Leser weitergeben wollte. Wenn diese Wahrheit, diese Botschaft einen Leser, einen Hörer heute erreicht, von ihm bejaht wird, sein weiteres Leben bestimmt, wird sie für ihn (um es in einem alten Bild zu sagen) zu ‚Gottes Wort‘. Luther hat dies in seiner Sprache so ausgedrückt: „Woran einer sein Herz hängt, das ist sein Gott.“.

So betrachtet wird verständlich, warum biblische Texte – solange es sie gibt – von Generation zu Generation überarbeitet, neu gestaltet und neu formuliert wurden und auch heute noch werden. Jede Generation hat ihre Erfahrungen mit Gott und der Welt in die Überlieferung – in ihre Predigten – eingebracht und so versucht, deren Wahrheit in der Gegenwart verständlicher zu machen, zu aktualisieren und weiterzugeben. Deshalb beschränken sich Christen in ihren Gottesdiensten nicht auf das Vorlesen der überlieferten Texte, sondern die biblische Tradition wird in Predigten immer wieder neu erklärt, formuliert, aktualisiert.

Dies gilt auch für Kinderbibeln. Ihre Texte sind daran zu messen, ob biblischen Tradition ‚neu‘ und ‚verständlich‘ von ihren kindlichen Lesern heute gehört und verstanden werden kann. So ist im Anschluss an die HOSENTASCHENBIBEL mit der SCHULRANZENBIBEL eine Erstleserbibel entstanden, deren Texte die biblische Botschaft für Lesen lernende Schülerinnen und Schüler ab dem zweiten Schuljahr erschließen. Die Zahl der ausgewählten biblischen Geschichten wurde auf 52 erhöht und Gabriele Hafermaas gestaltete neue Erzählbilder.

Inzwischen wurde die HOSENTASCHENBIBEL ebenso wie die SCHULRANZENBIBEL vielfältig eingesetzt und erprobt. Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrer berichten in Begleitseminaren oft begeistert von ihren Erfahrungen. Die Ergebnisse dieser Rückmeldungen zeigen, dass der eingeschlagene Weg viele neue Perspektiven eröffnet und motivieren zur Arbeit an der Weiterentwicklung des Projekts.

Auswahlbibliographie

 

Lernzielorientierter Religionsunterricht?
in: „Informationen zum Religionsunterricht“ Heft 1/1969, Kassel,  S. 13 ff

Wie lesen wir das Neue Testament? – Lernprogramm,
Hannover-Zürich-Köln 1970

Projektideenplan zum Religionsunterricht,
in: „Informationen zum RU“, Heft 3 u. 4/1970, Hannover 1970, S. 21 ff

Wie lesen wir das Alte Testament? Lernprogramm, Hannover 1977

Schülererfahrung und Religionsunterricht
in. "Informationen zum RU", Heft 2/1981, Hannover 1981, S. 25 f
f

Komm, wir bauen eine Stadt! ­ Ein Modellbausatz zur Umwelt und Zeit Jesu, Oldenburg 1984

Auf der Suche nach dem Gottesberg in "Religio", Heft 4/89, Fuldatal 1989, S. 4

Mit Kindern über Gott und die Welt nachdenken - Philosophie als Alternative zu Religion und LER? in: Isabel Schneider-Wölfinger / M. Viertel (Hrsg.) "Philosophieren mit Kindern als vierte Kulturtechnik" Ev. Akademie Hofgeismar 2002

Die Hosentaschenbibel (Hrsg.), Bilder: Gabriele Hafermaas, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004

Die Erzählgeschichten zur Hosentaschenbibel (Hrsg.), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004

Erzähl doch mal! (Hrsg.) Die Erzählbilder zur Hosentaschenbibel, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004

Kindern biblische Geschichten erzählen, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004

Gottes Wort in Kinderbibeln? In Jürgen Heumann (Hrsg.): „Über Gott und die Welt –Religion, Sinn und Werte im Kinder- und Jugendbuch“ Verlag Peter Lang. Frankfurt am Main 2005, S. 91ff

Individuelles Lernen durch Lernprogramme für den Religionsunterricht, in: Gerhard Büttner (Hrsg.) Lernwege im Religionsunterricht - Konstruktivistische Perspektiven, Calwer Verlag Stuttgart 2006, S. 179 - 194

Die Hosentaschenbibel in: Jürgen Heumann (Hrsg.) Auf der Suche nach Religion - Die Wiederkehr der Religion im Kinder- und Jugendbuch, Carl von Ossietzky Universität, Didaktisches Zentrum Oldenburg 2007, S. 21-34

Die Schulranzenbibel Die schönsten Geschichten der Bibel erzählt von Horst Heinemann mit Bildern von Gabriele Hafermaas, Wort im Bild, Altenstadt 2008

 

Als Herausgeber religionspädagogischer Zeitschriften:

1968 – 1981 informationen zu religions-unterricht, zusammen mit Hubertus Halbfas, Peter Michael Pflüger und Siegfried Vierzig, Schrödel Verlag, Hannover

1982 – 1986 Zeitschrift für Religionspädagogik RELIGION HEUTE, zusammen mit Gerhard Jentsch, Jürgen Lott, Friedhelm Munzel, Reinhard Veit und Siegfried Vierzig , Schrödel Verlag, Hannover

1987 – 1993 RELIGIO – Magazin für Religion in Kirche, Kultur und Gesellschaft , Deutscher Studienverlag, Weinheim

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